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Marino Formenti – Liszt Inspections

KAIROS 0013292KAI (2016)
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KAIROS 0013292KAI (2016)Das Programm dieser Einspielung, so neugierig und klug erdacht und so empathisch interpretiert vom Pianisten und Dirigenten Marino Formenti, ist nichts für jene, die am liebsten »ein paar als Kitschnummern abgestempelte Werke« (Formenti) aus dem Klavierwerk Liszts in einander immer ähnlicher werdenden, fast austauschbaren Inszenierungen des internationalen Virtuosenzirkus konsumieren mögen.


»Selbst die sogenannten Show-Stücke sind eigentlich bahnbrechend: formell, harmonisch, ästhetisch – technisch sowieso. In seinen unbekannten Werken liegt aber eine solch experimentelle Recherche vor, die von nahezu forschender Auseinandersetzung mit der kompositorischen Materie, mit kompositorischen Fragen zeugt: Ermittlungen in alle Richtungen. […] Als begnadeter Interpret war Liszt besonders aufnahmefähig, wie ein großer Schwamm, und mit Riesenantennen ausgestattet. Gerade deshalb scheint er viele Möglichkeiten, ja Probleme der Moderne vorauszusehen, er schlug ganz unterschiedliche, manchmal konträre Wege ein, und antizipierte damit etliche Fragen, Themen, Strömungen.
Das ist zumindest das Resultat meiner Ermittlungen. Die vorliegende Aufnahme gibt Einblicke in diese noch zu entdeckende Vielfalt. […] Ich habe versucht, mit der Kraft und der Freiheit der Imagination, Liszt in die Zukunft zu projizieren.«

So weit Marino Formenti in seinem Essay zu den Liszt Inspections (S. 4.). Formentis Projektion verlängert Liszts Klavierwerke in eine Zukunft, die unsere Gegenwart ist, in Werke von Komponisten wie beispielsweise Berio, Cerha, Feldman, Ligeti, Rihm, Stockhausen, Ustvolskaja (die vollständige Liste siehe unten). Dabei geht es ihm nicht um bloße Transformation musikalischen Materials, nicht um Bearbeitung, Transkription oder Paraphrase Lisztscher Musik – obwohl das schon spannend genug wäre. Formenti sucht vielmehr nach ähnlichen Problemlagen und deren möglicher Beantwortung in der Musik nach Liszt. In seinem Essay zu dieser Aufnahme formuliert Formenti solche von Liszt vielfältig und sozusagen mehrdimensional aufgeworfenen Problemlagen unter Überschriften wie beispielsweise Materie, Opera aperta, Etüde vs. Studie, Sound, Minimalismus, ErinnerungVergessen, Identität, Tod, Musik und Politik, Stille.
Überhaupt, dieser Essay: Formenti öffnet darin den Blick für das, was Liszts Werk – und keineswegs nur für die Wissenschaft – so reich, unauslotbar und in all seinen Extremen vielgestaltig macht. Ein Essay, der vieles ausspricht, was in der Auseinandersetzung mit Liszt an der Zeit ist. Dafür schon gebührt Formenti Dank, mehr aber noch dafür, wie er mit dem weit ausgreifenden Programm diese Gedanken pianistisch darstellt. Als habe man es hier nicht nur mit einem, sondern gleich mehreren Pianisten zu tun, so breit ist Formentis Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Klavier. Unter seinen Händen entstehen aus jedem Stück atmende Individuen, die zu uns sprechen; sie miteinander in Dialog zu setzen, bleibt – inspiriert vom Interpreten – Aufgabe des Hörers. Formenti, der gefeierte Künstler zeitgenössischer Musik, zeigt hier auch als Liszt-Interpret sein absolute Extraklasse. Mit dieser als Doppel-CD erschienenen, auch klangtechnisch großartigen Aufnahme eröffnet Formenti uns nichts weniger als einen neuen Zugang zur Musik Liszts sowohl, als auch zur Klaviermusik nach Liszt. Ein (inzwischen mehrfach ausgezeichnetes) Unternehmen, dem man unbedingt Fortsetzungen wünscht – und das man getrost einen Meilenstein nennen darf.

Michael Straeter

 

Komponisten dieser Aufnahme:

Franz Liszt und…
John Adams
Luciano Berio
Friedrich Cerha
Morton Feldman
György Kurtág
György Ligeti
Tristan Murail
Gérard Pesson
Wolfgang Rihm
Salvatore Sciarrino
Karlheinz Stockhausen
Galina Ustvolskaya