Joris Verdin, Psallentes & Solisten: L’abbé Liszt

Le Bricoleur LBCD/10 (2017)
jorisverdin.com / psallentes.com / le-bricoleur.be

Der belgische Organist und Harmoniumspezialist Joris Verdin hat sich erneut der Musik Liszts zugewandt; diesmal der Musik aus der biografischen Epoche des Abbé Liszt, der dieser sehr schön gestalteten und reich ausgestatteten Doppel-CD auch den würdigen Titel gibt. Auch wenn Präludium und Fuge über den Namen BACH (1. Fassung, S 260) und die vier Consolations (Gottschalg/Liszt, S 672d) dem zeitlichen oder thematischen Rahmen nicht ganz entsprechen mögen, ist diese (auch klangtechnisch ausgezeichnete) Einspielung von hohem musikalischen und Repertoirewert.

Im ersten Teil (CD 1) interpretiert Verdin Orgelwerke Liszts auf dem zeitgenössischen 46-stimmigen Instrument aus der Werkstatt von Dalstein und Haerpfer (1881) der Kirche Saint-Sébastien in Nancy. Das außergewöhnlich fein und harmonisch intonierte Werk der bei Cavaillé-Coll ausgebildeten Orgelbauer verfügt über eine große Verschmelzungsfähigkeit und dynamische Abstufung, wirkt nie hart oder schreiend, ist im vollen Werk brillant, aber weich, und weist über einem mächtigen Fundament einen schier unerschöpflichen ›romantischen‹ Farbenreichtum auf.
In Einleitung, Fuge und Magnificat aus der Symphonie zu Dantes Divina Commedia (S 672b) stellt Verdin sein tiefes Verständnis für Liszts Musik und ihren Klangreichtum unter besonders eindrucksvollen Beweis. Charakteristische, farbenreiche Registrierung, eine breite, dabei bruchlose Dynamik, eine dem Notentext (Orgelwerke in der Haselböck-Edition) wie dem Instrument gleichermaßen Rechnung tragende Dramaturgie zeichnen Verdins Liszt-Interpretation aus. In Les Morts – Oraison (S 268/2) auf den Text von Lamennais lässt Verdin die in die Partitur eingefügten Text-Motive strukturierend von einem Sprecher vortragen (Sprecher: Jean Bizot), was Liszts Werk auf den Tod seines Sohnes Daniel in seiner charakteristischen Verbindung von Musik, Dichtung (hier als gesprochenes Wort) und Religiosität (Kreuzesmotiv) eine bisher so nicht gehörte Wirkung verleiht.
Liszts musikalischer Formenreichtum auf der Orgel (B-A-C-H-Präludium und Fuge, Dante-Symphonie, Consolations, Nun danket alle Gott S 674c, Les Morts, Ave Maris Stella S 669, Requiem für die Orgel S 266) – auch wenn B-A-C-H und die abschließenden Teile des Orgelrequiems die beiden einzigen Originalkompositionen für das Instrument in dieser Aufnahme bilden – lässt sich kaum eindrucksvoller darstellen, als Joris Verdin es hier vermag.

Im zweiten Teil (CD 2) wendet sich Verdin verschieden besetzten Werken des Abbé Liszt zu, in denen die Orgel (Ibach 1863-64, Gertrudiskerk Bergen-op-Zoom, 32 Register) und das Harmonium (Victor Mustel 1874, Sammlung Verdin) die Konstanten bilden. Gemeinsam mit dem 12-köpfigen Frauenstimmen-Ensemble »Psallentes« unter der Leitung von Hendrik Vanden Abeele, Françoise Masset (Sopran), Guido de Neve (Violine) und Aurélie Guerreiro Viegas (Harfe) ist dieser zweite Teil von ausgesprochen hohem Repertoirewert – schließlich hört man Werke wie den 137. Psalm (S 17/2) für Sopran, Violine, Chor und Harmonium, O Meer im Abendstrahl (S 344) in einer Fassung für zweistimmigen Frauenchor und Harmonium, O sacrum convivium (S 58) für Sopran, Chor und Orgel oder die Hymne de l’enfant à son réveil (S 19/4) für Chor, Harmonium und Harfe – letztere bekannt nur durch die Klavierfassung – nur sehr selten oder gar nicht.
Offertorium und Benedictus aus der Ungarischen Krönungsmesse für Violine und Orgel (S 678/1 und 2) und vier Stücke aus dem Reqiuem für die Orgel (S 266) bilden einen instrumentalen Rahmen; die anderen acht Werke sind Vokalwerke auf religiöse und biblische Texte (mit Ausnahme von O Meer im Abendstrahl nach einem Gedicht von Alfred Meißner).

Joris Verdin, das Ensemble »Psallentes" unter der Leitung von Hendrik Vanden Abeele und die Solisten agieren auf höchstem musikalischen Niveau. Sie haben das weitgehend unbeachtete, ja teils vergessene Repertoire nicht nur wiederbelebt – sie haben weit mehr als das geleistet: Sie haben mit dieser Einspielung gezeigt, dass die Kompositionen des Abbé Liszt weit über dessen persönliche Religiosität hinaus künstlerisch-musikalisch wie intellektuell noch immer – aber auch immer wieder – zu entdecken sich lohnt.

Den Mitwirkenden an dieser Aufnahme – allen zuvor aber Joris Verdin – muss man dafür höchstes Lob zollen.

Michael Straeter