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Michael Korstick - Franz Liszt: Harmonies poétiques et religieuses

cpo 777 951-2 (2015)

© cpo (2015)

Zu den großen Liszt-Interpreten unserer Zeit ist der in Köln geborene Pianist Michael Korstick zu zählen. Vor allem durch das Medium der Aufnahme bekannt geworden - etwa mit den letzten Beethoven-Sonaten oder Liszts h-Moll-Sonate - und offensichtlich wie wenige mit ihm vertraut, legt Korstick hier eine ebenso ungewöhnliche wie richtungweisende Einspielung vor.

»Über die ganze Zeit von einem Dutzend Jahren hinweg, die ich in Weimar zubrachte, hat mich eine große Idee in Atem gehalten - die Erneuerung der Musik durch ihre innigere Verbindung mit der Dichtkunst.« Mit diesem Zitat Liszts aus einem Brief an Agnes Street-Klindworth von 1860 schließen die (übrigens Ernst Burger gewidmeten) Liner Notes von Richard Armbruster. Wenn man diese Verbindung als ein Spannungsverhältnis betrachten will, so hat Liszt - und bekanntlich schon früh, und nicht nur in den Harmonies poétiques et religieuses - sein Leben darüber hinaus auch im Spannungsfeld von Kunst und Religion, zwischen Freiheit des Ausdrucks und Strenge des Dogmas, zugebracht.

In keinem anderen Werkzyklus Liszts - abgesehen vielleicht von den Années de pèlerinage, die ebenfalls in einer wegweisenden Einspielung Korsticks von 2011 vorliegen - findet dieses Spannungsverhältnis so deutlichen Ausdruck, wie in den Harmonies poétiques et religieuses (Searle 173). Die Bedeutung dieser beiden Zyklen für Liszt selbst mag auch daran zu ermessen sein, dass er jahrzehntelang um ihre Form gerungen hat.

Der Beitrag Armbrusters im Beiheft zeichnet die Genese der Harmonies detailliert nach, ausgehend von Liszts exzessiver Lektüre, darunter auch das »lire et relire« (Lesen und Wiederlesen) von Lamartines titelgebender Gedichtsammlung, deren 48 Poeme zuerst 1830 erschienen. Das 2014 wiederaufgefundene Leseexemplar Liszts ermöglicht zusätzliche Aufschlüsse über die Entstehung des Zyklus. Von seinen zehn Titeln beziehen sich sechs direkt auf Lamartine, eines steht als Ausdruck von Liszts patriotischen und sozialreformerischen Bestrebungen da (Nr. 7 Funérailles, eine ›Totenfeier‹ für die Gefallenen der Ungarischen Revolution von 1848/49), drei aber sind direkte Bezugnahmen auf die katholische Liturgie (Nr. 2 Ave Maria, Nr. 5 Pater Noster, Nr. 8 Miserere).

In der Spannung zwischen solchen Extremen, auseinander strebenden, aber immer auch aufeinander bezogen bleibenden fundamentalen Kräften bewegt sich auch die Interpretation Korsticks. Kaum bietet uns Korstick einen bequemen und entspannten Ruhe- und Aussichtspunkt, kaum einmal entlässt er uns für Augenblicke aus dem Kräftefeld seiner voran drängenden Thesen.

Auch das »lire et relire«, Liszts obsessive Lektüre und Relektüre, findet bei Korstick ihr deutliches Pendant: Kurrente und tradierte Lösungen interpretatorischer (und technischer) Probleme sind seine Sache nicht. Die kompromisslose Suche im Text und am Instrument nach der eigenen, nach der rechten Lösung führt auch in dieser Einspielung Korsticks zu so noch nicht gehörten, mitunter überraschenden, aber stets überzeugenden Ergebnissen - denn Michael Korstick verfügt nicht nur über das intellektuelle Vermögen, sondern auch über alle künstlerischen Möglichkeiten, diesem einen - seinen - meisterhaften Ausdruck zu geben. Schon das delirierende Schwanken der Invocation (Nr. 1) zwischen triumphaler Heilsgewissheit und existenzieller Verzweiflung, zwischen demutsvoller Selbsterniedrigung und kraftmeierischer Selbstgewissheit ist ein Meisterstück.

Man muss Korsticks Lesart dieses Exponenten romantischer Klavierliteratur gleichermaßen als eine Neu- und Wiederentdeckung feiern. Ein Meilenstein.

Michael Straeter